Stand: Oktober 1996
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Tibet Facts No.16

Tibet und die VR China: Einer politischen Lösung entgegen

Peking erklärte, daß Unabhängigkeit für Tibet nicht zur Diskussion stehe. Der Dalai Lama hat sich dem gefügt und bietet statt dessen diverse Vorschläge für eine politische Lösung an, die nicht die volle Unabhängigkeit beinhaltet. Die Verhandlungen darüber sind nun in eine Sackgasse geraten...

Überblick

Seit 17 Jahren ist der Dalai Lama bestrebt, eine politische Lösung für das Tibet-China-Problem zu finden, die für beide Seiten vorteilhaft ist. Er hat nicht nur seine Bereitschaft zu Verhandlungen kundgetan, sondern auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die innerhalb des Verhandlungsrahmens liegen, den Deng Xiaoping 1979 absteckte ("ausgenommen die Unabhängigkeit Tibets stehen alle anderen Fragen zur Verhandlung offen"). Der Dalai Lama hat seitdem eine Annäherung des "mittleren Weges" verfolgt und das Thema Unabhängigkeit ausgeklammert, in der Hoffnung, daß auf diese Weise "eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens geschaffen und eine mildernde Wirkung auf die repressive Politik Chinas in Tibet ausgeübt werde".

Die Chinesen haben jedoch ständig die Spielregeln verändert und sich trotz anfänglicher Einwilligung immer wieder geweigert, mit dem Dalai Lama oder seinen Vertretern zusammenzutreffen. Chinesische Aussagen tendieren dazu, Verwirrung in die Fragen zu bringen und die Verhandlungen hinauszuziehen. So machten sie die Forderung, daß der Dalai Lama "ins Mutterland zurückkehrt", zur Grundlage jeglicher Diskussion, ja sie boten ihm sogar einen Ehrenposten in der chinesischen Regierung an, und seit April 1988 auch das Recht, in Lhasa statt in Peking zu residieren. Der Dalai Lama sagt, daß China, wenn es die Tibet Frage auf die Diskussion um seinen eigenen persönlichen Status reduziert, dem wahren Problem, nämlich "dem Überleben der sechs Millionen Tibeter und dem Schutz seiner ausgeprägten Kultur, Identität und Zivilisation" aus dem Wege gehe.

Im September 1993 veröffentliche der Dalai Lama eine Reihe seiner privaten Briefe an die chinesische Regierung, worin seine zunehmende Frustrierung über Pekings ausgesprochenen Mangel an Bereitschaft, in ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Tibets zu treten, zum Ausdruck kommt. Diese Frustrierung führte zur Desillusion. In seiner Erklärung zum 10. März 1994 sagte der Dalai Lama: "Ich fühle mich nun genötigt, zuzugeben, daß mein Ansatz leider keinen Fortschritt zeitigte, weder im Hinblick auf reelle Verhandlungen, noch als Beitrag zu einer allgemeinen Verbesserung der Lage in Tibet“. Er fügte hinzu, er sei sich der Tatsache bewußt, daß sich durch seine versöhnliche Haltung und seine Entscheidung, keine vollständige Unabhängigkeit für Tibet zu fordern, „eine wachsende Zahl von Tibetern, sowohl innerhalb als auch außerhalb Tibets, mehr und mehr entmutigt fühlt".

Er sagte, die Tibeter müßten nun ihre Hoffnung auf die internationale Unterstützung setzen, aber fügte hinzu: "Wenn dies fehlschlägt, kann ich nicht mehr länger reinen Gewissens diese Politik der Beschwichtigung verfolgen. Ich empfinde sehr deutlich, daß es dann meine Pflicht ist..., mein Volk über den zukünftigen Verlauf unseres Freiheitskampfes zu befragen“. In seiner Rede zum 10. März 1995 kündigte er an, daß eine Volksbefragung innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft durchgeführt würde, um "den politischen Kurs unseres Kampfes zu klären. Es sollte eine gründliche und ehrliche Diskussion der verschiedenen, uns offenstehenden Optionen unter dem tibetischen Volk stattfinden."

Tibetischer Standpunkt

Der Dalai Lama machte klar, daß die Verhandlungen sich vornehmlich auf die Beendigung der chinesischen Politik des massiven Bevölkerungstransfers, die Achtung der fundamentalen Menschenrechte und demokratischen Freiheiten der Tibeter, die Entmilitarisierung und Entnuklearisierung Tibets, die Rückgabe der Autorität an das tibetische Volkes in allem, was seine inneren Angelegenheiten betrifft, und schließlich auf die Bewahrung der Umwelt konzentrieren sollten. Er betonte auch, daß die Verhandlungen den Gesamtraum Tibet betreffen müßten, nicht nur das Gebiet, welches China als die Autonome Region Tibet (TAR) bezeichnet.

Der Dalai Lama legte fünf wichtige Dokumente vor:

·         Verfassungsentwurf (1963), der ein auf westlichen Modellen basierendes, voll demokratisches System für ein zukünftiges unabhängiges Tibet vorsieht, wobei die Rolle des Dalai Lama einem durch allgemeine Wahlen gewählten Parlament unterliegt.

·         Fünf-Punkte-Friedensplan (Washington, 21. September 1987), in dem außerdem die Forderungen nach Entmilitarisierung, Umweltschutz und Vereinigung der drei ursprünglichen Regionen Tibets und ein Ende der Masseneinwanderung von Chinesen nach Tibet hinzugefügt wurden.

·         Straßburger Vorschläge (Europa Parlament, 15. Juni 1988, jedoch am 3. September 1991 wieder zurückgezogen), welche den Chinesen die Führung der auswärtigen Angelegenheiten und die Verteidigung zugestehen, falls sie den Tibetern vollständige Kontrolle über die inneren Angelegenheiten gewähren und das Ergebnis eines Referendums akzeptieren.

·         Ansprache von Yale (Yale University, 9. Oktober 1991) mit dem Vorschlag, der Dalai Lama sollte Tibet besuchen, um die Lage zu erforschen und das tibetische Volk davon zu überzeugen, den politischen Kampf weiterhin gewaltlos zu führen.

·         Verfassungsentwurf für ein zukünftiges Tibet (Dharamsala, Februar 1992), welcher Alternativen für den Übergang von einem chinesisch-besetzten zu einem freien und demokratischen Tibet enthält.

Im Juni 1994 äußerte der Dalai Lama einer belgischen Zeitung gegenüber, daß er zurücktreten werde, wenn Tibet unabhängig wird: "Wenn die Freiheit für Tibet kommt, dann wird es Wahlen und eine gewählte Regierung geben. Dann werde ich meine legitime Autorität dieser Regierung übergeben und keine Verantwortung mehr tragen." Er fügte hinzu, das tibetische Volk müßte dann entscheiden, ob er weiterhin der geistliche oder politische Führer bleiben sollte.

Chinesischer Standpunkt 

Die Chinesen behaupten, daß Tibet noch niemals ein unabhängiger Staat gewesen sei, und daß noch niemals eine Regierung irgendeines Landes Tibet als solchen anerkannt hätte. Sie verweigern deshalb kategorisch, mit der Exil-Regierung Gespräche zu führen, und bezeichnen Tibet als "eine interne chinesische Angelegenheit". Sie lassen nichts unversucht, die Regierung irgendeines Staates davon abzuhalten, den Dalai Lama zu empfangen, und deuten an, daß in diesem Falle lukrative Handelsgeschäfte und was Großbritannien angeht, die Verhandlungen mit Hongkong, gefährdet sein könnten. China hat "scharfe Maßnahmen", "entschiedene Schläge" und eine "gnadenlose Unterdrückung" jener angedroht, die "Unruhe in Tibet stiften“, und beschuldigt die "Dalai Clique" im Exil, für die Auslöung aller Proteste in Tibet verantwortlich zu sein. In der Gesetzgebung Chinas gibt es zwei wichtige Dokumente hinsichtlich Tibets:

- Das 17-Punkte Abkommen (Peking, 23. Mai 1951), welches das Versprechen enthält, daß "das bestehende politische System Tibets nicht geändert“ und es "hinsichtlich verschiedener Reformen in Tibet keinen Zwang seitens der Zentralregierung geben“ würde. Dieser Vertrag, den die Tibeter angesichts einer heranrückenden Besatzungsarmee unterschrieben hatten, wurde nach dem Aufstand in Lhasa von 1959 widerrufen, als die Nachricht Zentraltibet erreichte, daß die Chinesen die Vereinbarung in weiten Teilen Khams, das sie in Sichuan umbenannt und so von dem Vertrag ausgeklammert hatten, gebrochen hatten.

- Das Gesetz über die regionale Autonomie für die Minoritäten (1984), welches ähnliche Bestimmungen vorsieht, wie sie in dem "Allgemeinen Programm" (1949) und der "Verfassung der VR China" (1954) enthalten sind, und der lokalen Bevölkerung die Kontrolle über "Wirtschaft, Kultur und Bauwesen" zugesteht, vorausgesetzt, daß sie sich "der Führung der staatlichen Planung" unterordnet. Dieses Gesetz zielte darauf ab, die "Exzesse" der Kulturrevolution zu korrigieren durch die Aufstockung der Anzahl an tibetischen Kadern, die Bekräftigung der Garantie für die Freiheit in der religiösen Ausübung und die Erlaubnis zur Verwendung der tibetischen Sprache in Schulen.

Fünf Jahre lang nach 1979, als dieses Gesetz und andere "flexible Maßnahmen" zur Realisierung kamen, erlaubten die Chinesen fünf Erkundungs-Delegationen, die den Dalai Lama vertraten, Tibet zu besuchen, aber diese Reisen wurden eingestellt, als die Chinesen 1984 verlangten, daß die Tibeter mit chinesischen Dokumenten reisen sollten.

Im März 1994 wurde zum ersten Mal vor Hunderten von ausländischen Journalisten und Tibetern eine Pressekonferenz über Tibet in Peking abgehalten, offensichtlich zu reinen propagandistischen Zwecken. Die chinesischen Vertreter stellten irreführende und falsche Behauptungen auf, etwa daß 96 % aller Bewohner Tibets ethnische Tibeter seien.

Seit August 1993 fand keine direkte Kommunikation mit der chinesischen Regierung mehr statt, als eine Zwei-Personen-Delegation Peking einen kurzen Besuch abstattete, wo sie Minister und hohe Regierungsbeamte traf und der chinesischen Führung einen Brief des Dalai Lama übergab.

Internationaler Standpunkt

Eine Reihe von UN-Resolutionen Anfang der 60er Jahren zeigt, daß viele Regierungen bereit sind, China über die Menschenrechte in Tibet zur Rede zu stellen. Obwohl China damals noch kein Mitglied der UNO war und argumentierte, daß es daher nicht an diese Resolutionen gebunden sei, ist es wichtig, daß es sie überhaupt gibt. Seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an den Dalai Lama 1989 hat sich sein internationales Prestige kontinuierlich erhöht, und er ist mit führenden Politiker vieler Länder, einschließlich Großbritanniens und der USA, zusammengetroffen. Diese Gespräche werden zwar gewöhnlich als rein religiösen Charakter besitzend umschrieben, aber es ist schon ermutigend, daß sie überhaupt stattfinden.

Dennoch weigerten sich die westlichen Regierungen immer wieder, die Frage des völkerrechtlichen Status Tibets oder der Unabhängigkeit Tibets anzusprechen. Obwohl Parlamente in der ganzen Welt auf Verhandlungen zwischen China und Tibet ohne Vorbedingungen drängen, gaben sie dem Dalai Lama bisher keine wesentliche politische Deckung. Zum Beispiel rief die Britische Regierung China auf, in offene Verhandlungen mit Tibet zu treten, während sie gleichzeitig Erklärungen abgibt, daß tibetische Unabhängigkeit eine unrealistische Option sei. Die Vereinigten Staaten erneuern jedes Jahr wieder die Meistbegünstigungsklausel für den Handel mit China – ein Sieg für die kommerzielle Diplomatie.

Standpunkt von Free Tibet Campaign

Internationaler Druck kann eine wichtige Rolle spielen, um China an den Verhandlungstisch zu bringen; gleichzeitig verleiht er auch den Tibetern mehr politisches Gewicht bei den Verhandlungen. Andernfalls könnte Peking die Tibeter zwingen, einen "nationalen Kompromiß" zu akzeptieren, wobei einige negative Aspekte der Besatzung, etwa die Menschenrechtsverletzungen und die Umweltschädigung, wegfallen, den Tibetern jedoch keine echte politische Kontrolle übertragen würde. Selbst wenn es in dieser Hinsicht gewisse Fortschritte geben sollte, werden die Achtung vor den Menschenrechten und die Pflege der Umwelt immer zerbrechlich sein, solange China eine Kolonialherrschaft in Tibet ausübt.

Trotz gewisser Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen in Tibet in einigen Ländern bleibt der Druck auf China relativ gering. Die verminderte diplomatische Druckausübung seitens der großen Wirtschaftsnationen bedeutet, daß China es sich zum jetzigen Zeitpunkt sich leisten kann, die Einhaltung der Menschenrechte nur pro-forma vorzugeben. Nach einigen Schätzungen ist China bereits die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, und manche sagen gar voraus, daß es noch einmal der größte Wirtschaftsfaktor in der Geschichte werden wird. Immer wieder schlagen die Versuche, eine Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Tibet durch eine UN-Hochkommission zu erreichen, fehl, sobald China zur Nichtigerklärung des Antrages die Karte seiner wirtschaftlichen Kraft einsetzt.

NGOs und internationale Lobbygruppen wie Free Tibet Campaign stehen Garantie dafür, daß die Tibet-Frage aktuell bleibt. In diesem Zusammenhang ist ihre Rolle lebenswichtig. Am besten wird dies in dem Bericht des Sonderkomitees für Auswärtige Angelegenheiten über die Beziehungen zwischen Großbritannien und China von 1994 zusammengefaßt: "Die Welt darf nicht erlauben, daß die Tibet-Frage ignoriert bleibt... Die Vorteile, die China durch seine Politik in Tibet erzielen mag, könnten aufgewogen werden durch die Probleme, welche diese Politik in seinen internationalen Beziehungen hervorruft."